Prolog

Der Winter hatte lange gedauert, und der Frühling des Jahres 1807 schien ewig nicht kommen zu wollen. Es waren stürmische und kalte Tage unter einem bleiernen, düsteren Himmel.

Aber im Herzen Londons, in Mayfair, gab es bereits erste Anzeichen, dass der Frühling das Dunkle verdrängte. Im dichten Gras des Hyde-Parks blühten die Narzissen, und ein Kirschbaum an der Ecke der South Audley Street streckte seine schweren Zweige mit rosa Blüten in den trüben Himmel.

Zwischen Grosvenor und St. James's Square bereitete man sich auf die Frühjahrssaison vor und machte sich draußen auf der Straße an den Stadthäusern zu schaffen. Messing wurde mit Energie geputzt, Fensterrahmen gestrichen und Treppen geschrubbt.

Trotz der Kühle ging es laut und lebhaft zu. Das begann bei den Amseln, die oben auf den Dächern ihre Lieder pfiffen, und endete unten auf der Straße, wo die Diener in ihren neuen Livreen dahineilten und sich auf die kommende Saison freuten, die ihnen gutes Essen und zusätzlichen Lohn versprach.

Aber es gab eine Ausnahme, die Clarges Street Nummer 67.

Im ersten Moment dachte man, in Nummer 67 sei jemand gestorben. Die Rolläden waren herabgelassen, und die schwarze, bescheidene Fassade erinnerte in der eleganten Straße an ein Bestattungsunternehmen. Neben der hohen Stufe am Eingang lagen zwei angekettete eiserne Hunde. Sie blickten auf ihre Pfoten, als ob sie schon lange jede Hoffnung auf Befreiung aufgegeben hätten. Obgleich es gang und gäbe war, während der Londoner Saison ein Haus in Mayfair zu einem überhöhten Preis für eine gelegentlich minderwertige Unterkunft zu mieten, stand Nummer 67 leer. Und das schien auch so zu bleiben, obgleich die Miete angemessen und das Gebäude in gutem Zustand war.

Bedauerlicherweise galt Nummer 67 als »unglückbringend«, und das in einer Zeit, als das Spielfieber grassierte und vom Lord bis zum Spülmädchen jeder abergläubisch war. Das Haus gehörte dem zehnten Herzog von Pelham, einem jungen Mann. Der neunte Herzog hatte sich hier erhängt. Das war aber nicht der einzige Grund dafür, dass es während zweier Saisons leer stand und dass sich wahrscheinlich auch in der dritten Saison das Blatt nicht wenden würde. Nach dem Tode des Herzogs hatte nämlich eine Familie das Haus Nummer 67 gemietet, aber infolge der Spielleidenschaft des Sohnes ihr ganzes Geld verloren. Die nächste Familie erlitt ein noch schlimmeres Schicksal. Ihre junge hübsche Tochter Clara wurde mitten im Green Park tot aufgefunden, ohne Verletzung oder irgendeinen Hinweis auf die Todesursache.

Das Stadthaus blieb leer, obwohl der Agent des jetzigen Herzogs eine immer bescheidenere Miete verlangte. Der junge Herzog studierte an der Universität in Oxford und schien sich nicht weiter für das Haus zu interessieren. Es war nur eines seiner vielen Besitztümer. Außerdem hatte er eine Villa am Grosvenor Square.

Das Personal war noch zu Zeiten des alten Herzogs gegen sehr niedrigen Lohn eingestellt worden. Und daran hatte sich auch nichts geändert, weil der junge Herzog, der die Verwaltung des Hauses ganz seinem Agenten überließ, noch gar nicht bemerkt hatte, dass es in Nummer 67 eine Dienerschaft gab, die das ganze Jahr über da war. Die Diener konnten von ihren Löhnen kaum die Mahlzeiten bestreiten. Aber solange das Haus vermietet war, hatten sie die Möglichkeit, bei den zahlreichen Gesellschaften, die gegeben wurden, ihr Essen und ihren Lohn aufzubessern. Der Tisch der Dienerschaft hatte sogar unter der Last der übriggebliebenen Speisen geächzt. In den Taschen der Livreen und Schürzen hatten die Trinkgelder der reichen Dinnergäste geklimpert. Doch ohne Mieter waren die Diener arm dran. Deshalb blickte das Personal von Nummer 67 finster auf die glücklicheren Rivalen in den Nachbarhäusern, die wieder ein paar einträgliche Monate vor sich hatten.

Der Agent, der die Diener eingestellt hatte, war ein brutaler Mann Mr. Jonas Palmer. In den Büchern, die er seinem Herrn vorlegen wollte, verzeichnete er hohe Löhne, obwohl er den Dienern fast nichts zahlte. Bisher hatte der junge Herzog noch nicht darum gebeten, die Bücher einsehen zu dürfen, aber Palmer war sich darüber im klaren, dass dieser Tag bald käme, und war darauf vorbereitet.

Keiner der Diener konnte es sich leisten, zu kündigen und eine andere Stelle anzunehmen. Denn Palmer hatte sie alle in der Gewalt und wollte, dass sie auf ihrem Posten blieben, damit er seinen Herrn weiterhin betrügen konnte. Die Löhne, die er tatsächlich an die Dienerschaft zahlte, sowie Einzelheiten aus ihrem Vorleben, sorgsam zusammengetragen, hatte er aber genau verzeichnet und diese Aufzeichnungen sorgfältig weggeschlossen.

Mr. John Rainbird, der Butler, war zuvor erster Lakai im Hause Lord Trampingtons gewesen. Dort ertappte man ihn im Bett der Lady Trampington und entließ ihn fristlos. Obwohl sich die gnädige Frau außerordentlich zu amüsieren schien, als sie entdeckt wurde, jagte man Rainbird mit einem schlechten Zeugnis davon. Als Palmer ihm eine Anstellung als Butler anbot, erschien ihm das zu schön, um wahr zu sein. Der Lohn war zwar sehr niedrig und der alte Herzog ein Geizkragen, aber während der Haupt- und Nachsaison konnte man gute Nebeneinkünfte erzielen, wenn der Herzog am Grosvenor Square wohnte und in der Clarges Street seine Gäste empfing. Da der alte Herr unter der krankhaften Vorstellung litt, dass alle seine Besucher Diebe seien, zog er es vor, sie in ein Haus einzuladen, wo die Möbel und Kunstgegenstände nicht so wertvoll waren. Nach dem Tode des alten Herzogs entdeckte Rainbird, dass sein Lohn bis auf das Existenzminimum gekürzt worden war. Er ging zu Palmer, um zu kündigen, doch jener entgegnete ihm, dass er dann eine Anzeige in die Zeitung setzen werde, in der er alle künftigen Arbeitgeber vor Rainbirds Schwäche für das andere Geschlecht warnen wollte. So blieb Rainbird. Er war ein schlanker gutgebauter Mann von vierzig Jahren und hatte ein ausdrucksvolles Gesicht, das an einen Komödianten erinnerte. Er sah bleich aus. Sein Gesichtsausdruck wechselte ständig. Er hatte ein auffallend langes Kinn und leuchtend graue Augen.

Der Koch Angus MacGregor, zweiter Küchenchef in einem vornehmen Haus in Paris, als die Revolution ausbrach, war nach England geflohen, nachdem er vorher noch zugesehen hatte, wie sein Herr enthauptet wurde. Im Kochen war er ein Genie. Aber infolge seines hitzigen Temperaments hatte er eine Stellung nach der anderen verloren. Er wußte, er würde nirgends anders unterkommen, wenn er auch große Lust verspürte, Palmers Specknacken mit einem Hackbeil zu bearbeiten. An seinem vorangegangenen Arbeitsplatz hatte er eine Hammelkeule nach seiner Herrin, Lady Blessop, geworfen, nachdem sie in der Küche hatte sagen lassen, die Keule sei schlecht gebraten und er habe sie hereingelegt.

Die Haushälterin Mrs. Middleton - »Mrs.« wurde sie aus Höflichkeit genannt - hatte einen Pfarrer zum Vater; sie zeichnete sich durch ein feines Benehmen und Bildung aus. Aber es war mit ihr bergab gegangen. Nach dem Tode ihres Vaters war sie gezwungen gewesen, für sich selbst zu sorgen. Verzweifelt suchte sie nach einer Stellung, die einer Dame angemessen war, und hatte schon alle Hoffnung aufgegeben. So war ihr der Posten einer Haushälterin in Nummer 67 wie ein Geschenk des Himmels erschienen. Inzwischen wünschte sie sich nichts sehnlicher, als von dort weggehen zu können, wußte aber, dass niemand sie ohne Zeugnis einstellen würde.

Der Lakai Joseph, ein großer, gutaussehender Mann, war vom Bischof von Burnham, der ein Palais bewohnte, entlassen worden, weil er angeblich gestohlen hatte. Aber jeder wußte, dass der Diebstahl von der Frau des Bischofs begangen worden war. Sie neigte dazu, alles, was ihr an den Gästen im Palais gefiel, an sich zu nehmen. Ihr Ruf musste aber gewahrt werden. Daher erklärte der Bischof Joseph, er könne sich glücklich schätzen, dass man ihn nicht im Gefängnis werfe.

Joseph hatte etwas Weibisches an sich und liebte die Livree, die er bei Antritt seiner Stellung in der Clarges Street bekommen hatte, über alles. Er hätte kündigen und Arbeiter werden können, aber er war viel zu stolz auf seine weißen Hände und erklärte, er wolle »lieber verhungern« als andere Arbeit verrichten.

Jenny, die Zofe, war klein und flink und hatte dunkles Haar. Die Stelle in dem großen Haus in der Clarges Street war ihre erste. Ohne ein Zeugnis hätte sie nirgends anders unterkommen können. Genauso war es bei Alice, dem Hausmädchen, einer wahren Juno, und auch bei Lizzie. Letztere arbeitete als Küchenmagd.

Der Küchenjunge Dave war erst kürzlich hinzugekommen. Er war seinem Meister, einem Kaminkehrer, davongelaufen. Geld bekam er nicht, da es Rainbird war, der sich des zitternden, obdachlosen jungen erbarmt hatte, als er ihn betteln sah. Palmer wußte nichts von seiner Existenz. Der junge hatte in der Dienerschaft der Clarges Street eine zweite Familie gefunden. Er dachte nicht im Traum daran, sie zu verlassen.

An einem kalten Frühlingsabend saßen alle in der Gesindestube und verzehrten ihr bescheidenes Mahl, das aus einer dünnen Suppe und altbackenem Brot bestand. In besseren Tagen pflegten sich Rainbird und Mrs. Middleton in das Zimmer der Haushälterin zurückzuziehen, das sich in halber Höhe der Hintertreppe befand, um dort Wein zu trinken. jetzt aßen sie zusammen mit den anderen Dienern, was da war. Das Haus schien sich auf ihre Köpfe herabzusenken. Es war fast menschenleer, aber voller Möbel, die mit Leintüchern bedeckt waren.

Gewöhnlich bildete die Dienerschaft eine geschlossene Einheit. Sie war sich einig in ihrer heftigen Abneigung gegen den Agenten Palmer. Aber das änderte sich eines Abends, als Joseph, der Lakai, hereingetänzelt kam und sich schmollend am Tisch niederließ.

»Zum Teufel mit diesen Straßenjungen!« fluchte er und hielt eines seiner wohlproportionierten Beine hoch, das in einen weißen seidenen Strumpf mit eingestickter schwarzer Verzierung gehüllt war.

»Was haben die denn angestellt?« fragte der schottische Koch MacGregor, während er wässrige Suppe in eine Schüssel füllte.

»Sie haben mit einer Nadel in meine Waden gestochen, um zu sehen, ob sie echt sind.«

Viele Lakaien trugen Waden aus Holz, wenn sie keine ansehnliche Beinmuskulatur aufzuweisen hatten, denn feste Waden waren in diesem Beruf einfach unerlässlich.

»Und sind sie es? Echt, meine ich«, erkundigte sich der Koch und stellte die Schüssel mit Suppe vor Joseph hin.

»Natürlich sind sie echt, Sie ungehobelter Flegel. Ein Glück, dass Sie kein Lakai sind. Sie müssten ganze Eichenstämme tragen, damit Ihre spindeldürren Schenkel nach mehr aussähen«, erwiderte Joseph und kicherte. Dann nahm er seinen Löffel in die Hand. »Pfui! Was ist das für eine abscheuliche Brühe?«

»Mr. MacGregor hat hier in der Nähe eine Katze entdeckt«, sagte Jenny, die Zofe, und lachte.

 »Das lasse ich mir nicht länger gefallen«, schimpfte der schottische Koch, griff nach einem Bratspieß und trat auf Joseph zu.

»Jetzt reicht's«, sagte Rainbird in scharfem Ton. »Gehen Sie zur Pumpe, Angus, und kühlen Sie sich ab! Und Sie, Joseph noch eine solche Bosheit, und wir ziehen Ihnen Frauenkleider an.«

»Bravo«, spottete MacGregor.

»Nur weil mir eine gewisse Eleganz zu eigen ist, die sich nicht beschreiben läßt, braucht ihr euch nicht über mich lustig zu machen.« Joseph holte eine Flasche Moschus hervor und hielt sie sich kokett unter die Nase.

Mrs. Middleton griff danach. Sie machte es so ungeschickt, dass sich der Inhalt der Flasche über den Tisch ergoß. Der durchdringende Moschusduft vermischte sich mit dem strengen Geruch des Hammelfleisches, der aus der Suppe aufstieg.

»Woher haben Sie das?« wollte Mrs. Middleton wissen. »Wir sollten unsere paar Pfennige für das gemeinsame Essen ausgeben.«

Dave, der Küchenjunge, hielt einen seiner schmutzigen Finger in die Lache mit dem verschütteten Parfüm, betupfte sich damit hinter den Ohren und begann auf und ab zu tänzeln. »Seht mich an«, sagte er und stemmte seine kleine Hand in die Hüfte. »Ich bin Harriette Wilson.« Harriette Wilson war die angesehenste Kurtisane von London und wurde allgemein die »Königin der Nutten« genannt.

»Setz dich!« verlangte Alice und machte eine entsprechende Kopfbewegung. »Ich werde dich mit der Rute züchtigen, Dave, pass nur auf!«

»Nur für Lebensmittel darf Geld ausgegeben werden«, sagte Rainbird streng.

»Ich konnte nicht anders«, beteuerte Joseph in klagendem Tonfall. »Ich brauchte irgend etwas, um den Mut nicht zu verlieren. Da ist Luke, dieser Lakai von nebenan. Bei ihnen werden bald Lord und Lady Charteris eintreffen, und das heißt, es gibt Abendempfänge, Gesellschaften und eine Menge Trinkgelder. Eine neue Livree hat er auch bekommen und gleicht jetzt einem Tagedieb aus der Bond Street, was ich ihm ins Gesicht gesagt habe. Ich hasse alles, die schmuddelige Küche, das miese Essen und nichts zum Lachen. Ihr versteht das nicht.«

»Immer müssen Sie jammern«, meinte MacGregor, der ihm die beleidigende Äußerung über seine Beine noch nicht verziehen hatte. »Sich herausputzen ist alles, was Sie tun, während ich ausgehe, um etwas Essbares für uns aufzutreiben. Und dabei bin ich der beste Küchenchef von London. Ich habe nur keine Gelegenheit, es zu beweisen. Ich hasse euch alle ...« Er wechselte ins Gälische. Obwohl ihn niemand verstand, hörte es sich noch schlimmer an als sein Englisch.

Die kleine Lizzie brach in Tränen aus und zog sich die Schürze über den Kopf. Alle blickten auf sie herab. Und doch hatte jeder sie auf seine Art gern.

MacGregor hörte auf zu fluchen und lüftete sein Käppchen aus weißem Leinen, unter dem er ein Stück Fleisch versteckt hatte. Ohne ein Wort zu sagen, schob er das Fleisch über den Tisch zu der schluchzenden Lizzie hin.

Joseph stieß den Stöpsel in die Moschusflasche. »Nimm sie, Lizzie«, bat er. »Hör auf zu weinen.«

 »Schluss mit dem Streit!« sagte Rainbird scharf. »Wir sind alle überreizt«, fuhr er in sanfterem Ton fort, als Lizzie aufschluchzte und ihre Schürze sinken ließ.

»Solche Worte haben wir uns noch nie an den Kopf geworfen«, meinte sie traurig. »Wird sich unsere Lage denn nie ändern?«

»Wohl kaum«, erwiderte Jenny, die Zofe.

»Wir könnten beten«, warf Lizzie ein.

»Dummes Ding«, sagte Rainbird seufzend. »Bestimmt haben das schon alle vor uns getan.«

»Aber vielleicht nicht in der richtigen Form«, entgegnete Lizzie und trocknete sich mit der Schürze die Augen. »Ich meine, in einer richtigen Kirche.«

»Vermutlich denkst du dabei an eine römisch-katholische«, bemerkte Joseph steif. »Aber du bist hier die einzige, die diesem Bekenntnis angehört. Wir anderen sind uns dazu zu fein.«

Doch Lizzie war nun einmal auf die Idee gekommen, in der Kirche zu beten, und das schien ihr Mut zu machen. Sie faltete die Hände. »Mr. Rainbird, dürfte ich heute abend in die Kirche gehen?«

»Was! Und mir das Geschirr überlassen?« fragte MacGregor.

»Bitte, Mr. Rainbird.«

»Es sind nur ein paar Schüsseln abzuwaschen, Angus«, sagte Rainbird. »Lizzie, du gehst am besten mit Joseph. Es tut dem Ruf einer Frau nicht gut, sich allein auf der Straße sehen zu lassen.«

»Nein, nicht mit mir«, widersprach Joseph hastig. »Ich bin kein Papist. Was wäre, wenn mich andere Lakaien in die Kirche gehen sähen?«

 »Ich werde allein gehen«, erklärte Lizzie. »Und ich werde beten, wie es sich gehört. Unsere Lage wird sich verändern. Ihr werdet schon sehen.« Sie eilte aus der Gesindestube. Ihre Holzschuhe machten dabei einen Heidenlärm.

 Mrs. Middleton schüttelte den Kopf. »Armes, in die Irre geführtes Kind!« meinte sie. »Mein lieber Vater, Gott hab' ihn selig, sagte immer zu mir, man müsse hinnehmen, was Gott einem zugedacht hat.«

»0 je! Uns hat er Palmer zugedacht«, bemerkte Rainbird bissig.

Lizzie hatte den Kopf in einen Schal gehüllt und eilte durch die dunklen Straßen. Ihr schwankender Schatten tauchte im schwachen Licht der Laternen bald vor, bald hinter ihr auf. Nach einer halben Stunde lag das vornehme London hinter ihr. Und die Straßen wurden immer schäbiger und dunkler. Nur wenn sie hörte, dass sich Betrunkene näherten, blieb sie stehen und drückte sich in den Schatten eines Hauseingangs. Danach eilte sie weiter, während ihre Holzschuhe laut auf dem Pflaster klapperten. Schließlich bog sie auf den Soho Square ein und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie die einladenden Mauern der Patrickskirche sah. Mit der Hand umklammerte sie einen Penny, den sie gespart hatte und der für den Kauf einer Kerze reichte.

Lizzie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Joseph ein Auge auf sie werfe. Aber sie sagte sich, dass sie für das Wohl aller beten müsse, ohne an sich persönlich zu denken.

In der Kirche war es still. Lizzie ging langsam, damit ihre Holzschuhe nicht zu viel Lärm machten, zahlte einen Penny für eine Kerze und begab sich dann zu dem Standbild der Jungfrau Maria in der Nähe des Altars. Sie zündete die Kerze an und stellte sie vor die Jungfrau hin. Dann sank sie auf die Knie und betete aufs innigste darum, dass der Fluch von Clarges Street 67 genommen werde und sie für die Saison einen Mieter bekämen. Sie betete eine Stunde lang. Standhaft verdrängte sie dabei alle Gedanken an Joseph, sobald sie die Erinnerung an die hochgewachsene Gestalt des Lakaien in sich aufsteigen fühlte.

Schließlich erhob sie sich, bekreuzigte sich und ging hinaus. Durch die engen Straßen fegte ein kalter stürmischer Wind. Hoch oben über den rußigen Schornsteinen funkelte ein kleiner Stern am Himmel. Lizzie fühlte sich plötzlich glücklich. Sie war sich bewußt, dass es ein Vorzeichen war. Gott hatte also ihr Gebet erhört. Sie brauchte nur zu warten.

Mit erhobenem Kopf kehrte sie auf dem kürzesten Weg in die Clarges Street zurück. Aus der Gesindestube drang lauter, fröhlicher Lärm. Lizzie drückte die Tür auf und trat ein.

Alle Diener hielten ein Glas Brandy in der Hand. Sie spendeten dem Koch lebhaft Beifall, der auf dem Tisch zwei Spieße, über Kreuz gelegt hatte und zwischen ihnen einen etwas merkwürdigen schottischen Tanz aufführte. Man sah deutlich, dass seine Schnallenschuhe keinen der beiden Bratspieße berührten, ganz gleich, wie hoch er sprang.

»Komm herein, Mädchen«, rief Rainbird. »Angus hat etwas im rückwärtigen Teil des Kellers gesucht und ist dabei auf lose Ziegelsteine in der Mauer gestoßen. Dahinter entdeckte er zwei Flaschen mit gutem französischem Kognak. Hol dir ein Glas und setz dich zu uns! Dein Gebet ist erhört worden.«

»Ich habe doch nicht um etwas wie Kognak gebetet«, erwiderte Lizzie äußerst schockiert. »Aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Mr. Rainbird: Ich und Gott, wir haben uns um alles gekümmert.«

Rainbird zwinkerte Mrs. Middleton zu und tippte sich an die Stirn.

Mrs. Middleton lächelte und nickte zustimmend, während ihre große weiße Haube bald nach vorn und bald nach hinten rutschte. »Das arme Kind«, flüsterte sie. »Sie glaubt das wirklich.«

»Lassen Sie ihr doch den Glauben«, erwiderte Rainbird. »Einer von uns kann ruhig von Hoffnung erfüllt sein. Trotzdem wird die nächste Saison lang und eintönig sein. Es wird sich nichts ändern.«